In der Schweiz gilt nach wie vor eine strenge Pflicht zur Zeiterfassung. Das Arbeitsrecht sieht vor, dass der Arbeitgeber Unterlagen führen muss, aus denen die geleistete Arbeitszeit und ihre Lage ersichtlich sind. Es muss also dokumentiert werden, wieviel und wann gearbeitet wird. Dieser Pflicht kann nur nachgekommen werden, wenn die Arbeitszeit mit einer Stempeluhr erfasst wird. Zwar gibt es mittlerweile moderne IT-gestützte Erfassungsformen. Dies ändert aber nichts daran, dass jede Minute aufgezeichnet werden muss. Da es sich dabei um eine öffentlich-rechtliche Arbeitnehmerschutznorm handelt, kann der Verstoss gegen die Arbeitszeiterfassung auch Sanktionen bis zu Bussen und Freiheitsstrafen nach sich ziehen. Von der Zeiterfassung ausgenommen sind lediglich die «höheren leitenden Angestellten», zu denen gemäss Bundesgericht aber nicht das gesamte Kader, sondern nur ein kleiner Teil von hochrangigen Mitarbeitenden gehört.
Spagat zwischen Fabrikgesetz und New Work
Die Zeiterfassungspflicht ist Ausdruck der industriellen Prägung der Arbeitsgesetzgebung. Das heutige Arbeitsgesetz hiess bis Mitte der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts «Fabrikgesetz». Das Personal in den Werkhallen sollte mit Vorschriften über die Arbeitszeit und die Sicherheit am Arbeitsplatz in ihrer Gesundheit geschützt werden. Diese Zielsetzung gilt selbstverständlich auch heute noch. Allerdings hat sich die Arbeitswelt stark verändert. Der Ausbau des Dienstleistungssektors, die Entwicklung der Wissensarbeit, die Einführung neuer Technologien und ein neues Verständnis von Führung und Organisation haben zur sogenannten modernen Arbeitswelt geführt. Mitarbeitende werden nicht mehr primär für ihre Anwesenheit während einer bestimmten Zeitperiode bezahlt, sondern für das Erreichen von Zielen. Wie, wo und wann sie arbeiten, wird in gewissen Berufen und Positionen zunehmend sekundär. Vertrauen bildet dabei eine wichtige Grundlage der heutigen und zukünftigen Führungs- und Arbeitsformen. Die Arbeitszeit bleibt eine wichtige Determinante des Arbeitsverhältnisses, rückt aber in den Hintergrund, weil es nicht mehr auf die einzelne Minute ankommt. Die Pflicht zur exakten Dokumentation der Arbeitszeit erscheint in dieser modernen Arbeitswelt als aus der Zeit gefallen. In vielen Betrieben hat sich über die Jahre die Vertrauensarbeitszeit etabliert, bei der die Mitarbeitenden ihre Arbeitszeit eigenverantwortlich überwachen.
Sozialpartner einigen sich mit dem Bund
Da die Vertrauensarbeitszeit nicht in Einklang zu bringen ist mit den strengen Zeiterfassungsvorschriften, begann vor rund 15 Jahren die aufwändige Suche nach einer Neuregelung der Dokumentation der Arbeitszeit. Wie konnte es gelingen, den Anliegen des Gesundheitsschutzes und dem Wunsch nach selbstbestimmtem Arbeiten gleichzeitig gerecht zu werden? Ein Pilotversuch in der Bankbranche unter Aufsicht des SECO und unter Einbezug der Sozialpartner der Bankbranche (Schweizerischer Bankpersonalverband, Kaufmännischer Verband Schweiz, Arbeitgeber Banken) lieferte erste Erkenntnisse. Nach intensiven Diskussionen einigten sich die Dachverbände der Sozialpartner mit dem Bund schliesslich auf einen Kompromiss, der 2016 in Kraft trat: Der neue Artikel 73a der Verordnung 1 zum Arbeitsgesetz ermöglicht seither den Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung für Mitarbeitende, die mehr als 120'000 Franken im Jahr verdienen und über eine grosse Autonomie bei der Gestaltung ihrer Arbeitszeit verfügen. Die Einzelheiten über den Verzicht müssen in einem Gesamtarbeitsvertrag verankert sein. Damit steht die Verzichtsmöglichkeit nur Betrieben zur Verfügung, die einem entsprechenden Gesamtarbeitsvertrag unterstellt sind.
Die Bankbranche macht es vor
Die Sozialpartner der Bankbranche haben im Hinblick auf das Inkrafttreten der neuen Bestimmungen einen Gesamtarbeitsvertrag verhandelt, der sich ausschliesslich mit dem Verzicht auf die Zeiterfassung befasst. Die «Vereinbarung über die Zeiterfassung» (VAZ) präzisiert die Voraussetzungen für den Verzicht: Wer ein Basissalär von 120'000 Franken oder mehr erhält oder in den letzten zwei Jahren jeweils eine Gesamtvergütung in gleicher Höhe erzielte, erfüllt das Kriterium der Lohngrenze. Zudem braucht es für den Verzicht einen hohen Grad an Autonomie. Das bedeutet, dass die Mitarbeitenden ihre Arbeit grösstenteils selbst planen und ihre Arbeitszeiten mehrheitlich eigenverantwortlich festlegen können. Der Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung ist freiwillig und muss schriftlich vereinbart werden. Zudem sieht die VAZ verschiedene flankierende Massnahmen zum Gesundheitsschutz vor. Dazu gehört etwa ein jährliches Gespräch über Arbeitszeiten, Arbeitsvolumen und Stress oder die Möglichkeit zur Teilnahme an einer Befragung zu psychosozialen Stressfaktoren.
Die VAZ erfreut sich sowohl bei Unternehmen als auch bei Mitarbeitenden grosser Beliebtheit. Heute sind über 210 Unternehmen aus der Finanzbranche mit rund 90'000 Mitarbeitenden der VAZ unterstellt. Rund ein Drittel der Mitarbeitenden erfüllt die Voraussetzungen und verzichtet deshalb auf die Zeiterfassung.
Die Erleichterungen bei der Zeiterfassung und die VAZ zeigen eindrücklich, dass es möglich ist, gemeinsam Lösungen mit hohem Kundennutzen zu kontrovers diskutierten Themen zu finden.
Haben Sie Fragen? Wir sind für Sie da!
Die VAZ steht allen Mitgliedern von Arbeitgeber Banken zur Verfügung, d.h. Banken, Finanzdienstleistern, Versicherungen etc. Der Beitritt und die Unterstellung sind jederzeit möglich. Arbeitgeber Banken stellt Mustervereinbarungen sowie weitere Unterlagen zur Verfügung, um den administrativen Aufwand bei den Unternehmen zu minimieren. Gerne beraten wir Sie bei Fragen rund um die Einführung des Zeiterfassungsverzichts. Kontaktieren Sie uns, wir sind gerne für Sie da!