Im Interview mit Arbeitgeber Banken spricht Michelle Kolb über ihre eigenen Erfahrungen im Arbeitsmarkt, ordnet ein, wo die Schweiz bei der Inklusion im Vergleich zu anderen Ländern steht, und zeigt die Chancen für Banken auf, die die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen mit sich bringt.
Michelle Kolb, seit Ihrer Studienzeit leben Sie mit einer Sehbehinderung. Welche Hürden erleben Sie in Ihrem Alltag? Wie arbeiten Sie heute?
Michelle Kolb: Hürden erleben wir alle und als jemand mit einer Sehbehinderung sind die Herausforderungen bei visuellen Tätigkeiten natürlich höher. In meinem normalen Arbeitsalltag sind diese jedoch gering, da ich mit einer Computer-Software arbeite, die sowohl Vergrösserung als auch einen Screenreader bietet. Zudem bewege ich mich in einem gewohnten Umfeld, was die Herausforderungen weiter minimiert. Ich bin daran gewöhnt, nach Lösungen zu suchen und kreativ zu sein, um sowohl meine persönlichen als auch meine beruflichen Ziele zu erreichen.
Welche Erfahrungen haben Sie persönlich im Schweizer Arbeitsmarkt gemacht?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wir als Gesellschaft noch sehr grosse Barrieren in unseren Köpfen haben. Das liegt aus meiner Sicht an der geringen Sensibilität für das Thema Behinderung, aber auch daran, dass wir Dinge gerne so tun, wie wir sie immer gemacht haben. Das Thema Behinderung verlangt aber kreative Lösungen und Unternehmen, die sich nicht scheuen, innovativ zu sein und als Pionier voranzugehen.
Was versteht man eigentlich genau unter Menschen mit Behinderungen oder Menschen mit Einschränkungen?
Die UNO-Behindertenrechtskonvention betrachtet Behinderung als das Ergebnis der Wechselwirkung zwischen einer Person mit einer Beeinträchtigung und den Barrieren in der Gesellschaft. Zum Beispiel könnte eine Person im Rollstuhl aufgrund von Treppen und fehlenden Rampen Schwierigkeiten haben, ein öffentliches Gebäude zu betreten, was ihre volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt. In diesem Moment ist es nicht nur die Mobilitätsbehinderung, die einschränkt, sondern auch die Umwelt, welche die betroffene Person behindert.
Wie viele Menschen mit Behinderung arbeiten in der Schweiz heute schon im ersten Arbeitsmarkt?
Die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen im ersten Arbeitsmarkt ist mit 72 Prozent gegenüber Menschen ohne Behinderungen mit 87 Prozent signifikant geringer. Für Unternehmen bedeutet das einen grossen Talentpool an Fachkräften.
Wo steht die Schweiz heute bei der Inklusion von Menschen mit Behinderungen im Arbeitsmarkt im Vergleich zu anderen Ländern?
Wir spüren in den letzten Jahren, wie das Thema in der Gesellschaft, aber auch in der Arbeitswelt an Bedeutung gewinnt. Die Nachbarländer Deutschland und Österreich sind uns jedoch immer noch einige Schritte voraus. Es ist Zeit, dies aufzuholen!
Sie engagieren sich in Ihrem Berufsalltag stark für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen. In der Schweiz geht es damit aber nur langsam vorwärts. Verlieren Sie manchmal nicht fast die Geduld?
Ich bringe eine grosse Passion für das Thema mit. Zum Glück, denn ansonsten wäre meine Arbeit kaum möglich. Es gibt so viele Studien, die den wirtschaftlichen Vorteil für Unternehmen belegen. Wir sollten uns alle bewusst sein, dass Menschen mit Behinderungen nicht „die Anderen” sind, sondern wir alle früher oder später mit dem Thema in Kontakt kommen werden. Die meisten Behinderungen treten im Laufe des Lebens auf. Was heisst das für uns? Wir müssen uns dafür einsetzen, dass wir eine (Arbeits-)Welt schaffen, in der wir alle arbeiten und leben möchten, mit und ohne Behinderung.
Es gibt viele Mythen oder auch Vorurteile rund um die Integration von Menschen mit Behinderung in den Arbeitsmarkt. Wie begegnen Sie diesen Mythen?
Einige der bekannten Mythen sind, dass Betriebe glauben, sie hätten keine Stellen, welche sie mit Menschen mit Behinderungen besetzen können. Auch hören wir immer wieder, dass sich ja so oder so jeder bewerben kann oder sich nie jemand mit einer Behinderung bewirbt. Hier hilft Sensibilisierung und Wissensaufbau. Es geht darum, Ängste abzubauen und die grossen Chancen für Unternehmen aufzuzeigen. Genau das versuchen wir mit unserem Expertenteam.
Was brauchen Menschen mit Behinderung, um im Schweizer Arbeitsmarkt ohne grössere Probleme Fuss fassen zu können?
Die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen sind genauso vielfältig wie diejenigen von Menschen ohne Behinderungen. Aspekte, die die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung positiv beeinflussen, sind zum Beispiel Teilzeitarbeit, flexible Arbeitszeiten oder Home-Office. Ebenfalls sehr hilfreich ist, wenn Unternehmen weniger in strikten Profilen denken und Mitarbeiter:innen stärkenorientiert einsetzen. Am Ende sind das alles Punkte, von denen viele Menschen profitieren und Unternehmen gleichzeitig ihren Talentpool enorm vergrössern können.
Bei vielen Arbeitgebenden gibt es Ängste, Unsicherheiten oder Unklarheiten bezüglich der Anstellung von Menschen mit Behinderung. Wie können wir diese abbauen?
Den Schlüssel sehe ich im Wissensaufbau. Unbekanntes verursacht Unsicherheit und schürt Ängste. EnableMe setzt hier an und holt Unternehmen da ab, wo sie stehen. Wir begleiten sie mit Sensibilisierungskampagnen, Workshops und weiteren Angeboten.
Sie sagen, es braucht eine Veränderung des Mindsets in den Unternehmen. Wie kann dies erreicht werden?
Wir finden mit Unternehmen gemeinsam einen Weg, um das Thema ganzheitlich anzugehen. Das kann bei der Strategieentwicklung anfangen oder mit einer Sensibilisierungskampagne. Andererseits liegt es auch an jedem einzelnen, sich bewusst zu werden, dass rund 90 Prozent der Behinderungen im Laufe des Lebens auftreten. Das heisst, es könnte jeden und jede von uns treffen, unsere Familie, unsere Freunde. Schaffen wir also gemeinsam eine Welt, in der wir selbst mit einer Behinderung leben und arbeiten möchten.
Mit dem Zusatz «Jede Person kann sich auf diese Stelle bewerben» in einer Stellenausschreibung ist ein Unternehmen also noch lange nicht inklusiv. Weshalb nicht?
Grundsätzlich sollte sich jede Person bewerben können, und am Ende sollten diejenigen eingestellt werden, die die erforderlichen Qualifikationen mitbringen und ins Team passen. Doch wie viele Leser:innen kennen jemanden oder waren selbst von einem Burnout, einer psychischen oder körperlichen Erkrankung betroffen? Wie hoch schätzt man selbst die Chancen ein, bei jedem Arbeitgeber die gleichen Möglichkeiten zu haben wie alle anderen?
Diese Überlegungen zeigen, wie wichtig es ist, dass sich Unternehmen klar positionieren. Denn echte Inklusion erfordert mehr als nur eine allgemeine Einladung zur Bewerbung. Ich frage immer: Wo würde man lieber arbeiten? An einem Ort, der Vielfalt und Diversität wertschätzt, oder in einem Unternehmen, das dieses Thema nicht aktiv anspricht?
Wie geht denn ein Unternehmen am besten vor, wenn es die Inklusion von Menschen mit Behinderung ernsthaft aufgreifen und umsetzen möchte?
Wir schauen immer gemeinsam mit dem Unternehmen, wo es aktuell steht und wo die Reise hingehen soll. Bei EnableMe haben wir verschiedene Angebote, welche es uns erlauben, ein Unternehmen auf der gesamten Inklusionsreise zu begleiten und zu unterstützen. Angefangen mit einer möglichen Strategieentwicklung, einer Sensibilisierungskampagne, verschiedenen spezifischen Workshops bis hin zur gezielten Rekrutierung von Menschen mit Behinderungen und Employer Branding.
Wo sehen Sie die Banken in der Schweiz beider Inklusion von Menschen mit Behinderungen?
Banken können definitiv eine Vorbildfunktion einnehmen. Es ist ein Sektor, der bereits sensibilisiert ist auf das Thema und in dem aufgrund der Unternehmensgrössen bereits viele Menschen mit Behinderungen beschäftigt sind.
Gibt es für die Finanzbranche spezielle Herausforderungen?
Da jede Stelle auch mit einer Person mit einer Behinderung besetzt werden kann, gibt es auch keine speziellen Herausforderungen für individuelle Branchen.
Reden wir doch noch über «EnableMe». Was ist und macht diese Organisation eigentlich genau?
EnableMe unterstützt Unternehmen auf ihrem Weg zu mehr Diversität und Inklusion, indem wir umfassende Dienstleistungen und Strategien anbieten. Wir helfen Unternehmen dabei, die Chancen und Relevanz beruflicher Inklusion zu erkennen und bieten Schulungen und Workshops an, um ein tiefes Verständnis für die Diversität von Behinderungen und Krankheiten zu schaffen. Unsere IST-Analysen und Inklusionsstrategien ermöglichen es Unternehmen, ihre aktuellen Rahmenbedingungen zu prüfen und gezielte Massnahmen zur Förderung der Inklusion zu definieren. Mit barrierefreier Rekrutierung und einem Employer Branding Profil erreichen Unternehmen einen Talentpool von 1,8 Millionen potenziellen Fachkräften. Mit unserem Lehrstellenportal besteht ebenfalls die Möglichkeit Jugendlichen mit Behinderungen eine Chance zu geben. Wir bieten auch Insights durch Produkttests und Umfragen, um sicherzustellen, dass Dienstleistungen und Produkte von Anfang an inklusiv gestaltet werden. Unsere Erfahrung und innovativen Angebote machen uns zu einem Partner für Unternehmen, die von den Vorteilen einer diversen und inklusiven Unternehmenskultur profitieren möchten. EnableMe ist Teil des Valuable500 Directory und offizieller Partner des grössten Business-Netzwerks im Bereich der Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Dank unserer Unterstützung können Unternehmen neue Kundensegmente erschließen, ihre öffentliche Wahrnehmung verbessern und eine positive Unternehmenskulturfördern. Mit uns als Partner wird Ihr Unternehmen inklusiver, innovativer und produktiver.
Ein wichtiges Angebot ist das Jobportal für Menschen mit Behinderung. Funktioniert dieses wie andere Jobportale auch oder gibt es Besonderheiten?
Grundsätzlich funktioniert es wie andere Portale auch. Wir bieten allerdings eine enge Unterstützung und Begleitung und sind bei Fragen für die Unternehmen da.
Wie sieht Ihre Erfolgsbilanz aus? Konnten Sie schon viele Menschen mit Behinderung vermitteln?
Da wir keine Personalvermittler sind, sondern eine Plattform, die das Ziel hat, Unternehmen und qualifizierte Menschen mit Behinderungen zusammenzubringen , wissen wir “nur” von individuellen Erfolgsgeschichten, wie diejenigen der WSP Ingenieure.
Wenn Sie sich etwas wünschen dürfen, was wäre Ihr Wunsch an die Banken in der Schweiz bezüglich Inklusion von Menschen mit Behinderung?
Ich würde mir wünschen, dass die Bankbranche eine Vorbildfunktion einnimmt und sowohl aufgrund der belegten wirtschaftlichen Vorteile gelebter Inklusion – wie höhere Produktivität und Innovation – als auch aufgrund ihrer gesellschaftlichen Rolle vorangeht. Inklusive Unternehmen sind bis zu 80 Prozent innovativer, 18 Prozent produktiver und finanziell erfolgreicher. Sie zeichnen sich durch eine positive Unternehmenskultur aus, haben zufriedenere Mitarbeiter:innen und eine geringere Fluktuation. Zudem können sie neue Kundensegmente erschliessen, von Vorteilen bei der Rekrutierung von Fachkräften profitieren und eine bessere Reputation geniessen. Darüber hinaus leisten sie einen wichtigen Beitrag zu den Nachhaltigkeitszielen, insbesondere zu SDG-10.